Gastarbeiter
- Michael Würtenberg

- 9. Okt.
- 2 Min. Lesezeit
Von Michael Würtenberg
Auf dem großen Platz drehen Kinder in elektrisch betriebenen Spielzeugautos Runde um Runde. Großväter, Mütter und Väter finanzieren ihren Schützlingen das Vergnügen – einige von ihnen wohl, um Ruhe vor den quengeligen Zwergen zu haben und in Ruhe Kaffee trinken zu können.
Das letzte Mal, als ich hier in Tetovo war, wurde geschossen. Das war 2001 im Frühling.
Hinter dem großen Platz im Zentrum sind die Berge im Abendlicht zu sehen. Dahinter kommt das Kosovo.

Vor knapp einem Vierteljahrhundert war es so, dass die grosse albanische Minderheit in
Nordmazedonien gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Benachteiligung kämpfte. Es kam zu schweren Gefechten. Die Regierung in Skopje schoss mit Artilerie in die Berge die heute im goldenen Abendlicht leuchten.
Vis-à-vis des Platzes mit den fahrenden Kindern steht der Kulturpalast, ein großes Gebäude im brutalistischen Stil Jugoslawiens. Die vielen Eimer auf dem fleckigen Teppich lassen keinen anderen Schluss zu, als dass das Dach nicht mehr dicht ist.
Aber heute regnet es nicht, und der große Saal mit der Bühne füllt sich mit Jungen, Alten, Kindern und Jugendlichen. Der Eintritt zum Tetovo Filmfestival 2025 ist kostenlos, und alle wollen den Streifen «Everybody Calls Redjo» sehen.
«It was war, it was terrible, today it’s not perfect, but better.»
Vor dem Screening werden die Hauptdarstellerin und die Hauptdarsteller mit einer weißen Lincoln-Stretch-Limousine vorgefahren. Beim genauen Hinsehen zeigen sich am polierten Auto einige Rostspuren – Glamour und Stars wie bei den Filmfestspielen in Cannes und Berlin, aber ohne Rauchverbot und mit mehr Charme, Herzlichkeit und ohne Bodyguards. Der Festivaldirektor begrüßt mich persönlich und freut sich, dass ich hier bin. Ich erkläre ihm, wann ich das letzte Mal hier in Tetovo war, und er kann sich noch gut erinnern: «It was war, it was terrible, today it’s not perfect, but better.»

Glamour in Tetovo: Afrim Muça Ledion Mulaku, und
Im Film lerne ich ein deutsches Wort auf Albanisch, das im ganzen Balkan nicht übersetzt wird. «Gastarbeiter» mit einem weichen R ausgesprochen. Egal, ob in Bosnien, Kosovo, Serbien oder Mazedonien. «Gastarbeiter» ist der Begriff für die Menschen, die in die Fremde gehen, um zu arbeiten, Erfolg zu haben oder Krieg und Elend zu entfliehen.
Im Film spielt Afrim Muçaj die Rolle des Redjo. Er ist der Einzige im Dorf nahe Kumanovo, der noch nicht «Gastarbeiter» geworden ist und sich deshalb vor Aufträgen nicht retten kann. Immer rennt Redjo der Zeit nach, schneidet Gras, dichtet Leitungen, streicht, mauert und streitet mit seiner Frau, die sehr eifersüchtig ist und ihn in Zukunft nur noch in Begleitung seines Sohnes zu Aufträgen bei alleinstehenden Frauen fahren lässt. Ein lieber Kerl, der es allen recht machen will und in Mafia-Geschäfte gerät. Vater und Sohn erleben so manches Abenteuer, aber wie in allen guten Filmen gibt es mächtig Ärger und ein schönes Ende.
Javier Solana war vor 25 Jahren der Sonderbeauftragte der EU, und er machte offenbar einen guten Job. Nach einem halben Jahr schwerer Kämpfe mit vielen Toten und Verletzten wurde das Friedensabkommen von Ohrid unter dem Druck der EU und den USA unterzeichnet. Dieser Vertrag ermöglicht es an diesem Abend im September 2025 Kindern, in elektrischen Autos über einen Platz zu fahren, und mit 600 Menschen in einem baufälligen Kulturzentrum einen schönen Film zu schauen.



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